Von Kristin Kupfer
Für Rechtsanwalt Zhang Sizhi sind Wörter die besten Waffen. Wenn er das Wort ergreift, spannt sich sein Körper, die Augen funkeln. Seine Sprache ist klar, scharf, aber nie verletzend. Der 81-jährige ordnet seine Gedanken, bevor er redet. Kein Satz ist Schmuck, jede Antwort treffend, Punkt 1, Punkt 2, Punkt 3. Zhang redet hochkonzentriert stundenlang. Als Chinas juristischer Pioneer für Recht und Gerechtigkeit spricht er ohne große Gesten. Der charismatische Mann mit dem vollen weiß-grauen Haar braucht sie nicht. Sein Beruf ist seine Berufung. „Als Rechtsanwalt bin ich vor Natur aus ein Menschenrechtler“, sagt er. Kein Pathos klingt in seiner Stimme mit. Denn er glaubt und lebt, was er sagt.
Geschmackvoll-funktional ist sein Wohnbüro im achten Stock eines Hochhauses im Südosten Pekings eingerichtet. Im Wohnzimmer stehen helle, dezente Möbel, im Arbeitszimmer Regale voller Bücher. Bände mit klassischen Gedichten reihen sich an Romane und Fachbücher. Zhang trennt Beruf und Privatleben. Das Wohnbüro hat ihm ein Freund überlassen. Er ist oft nur zur Besuch zu Hause, bei seiner Frau. Er erzählt ihr nichts von seiner Arbeit. Zhang will seine Familie schützen. Denn sein Ringen mit der kommunistischen Partei um die alleinige Herrschaft des Rechts hat einen Preis: Zhang lebt unter Beobachtung. Fährt er in andere Städte zu seinen Klienten, wird er häufig von der Polizei verfolgt. Das Wachpersonal am Eingang seines Hochhauses beäugt Besucher von Zhang kritisch.
Das Gewissen der Anwälte
Der Rechtsanwalt hat seit Anfang der 1980er Jahre all die politisch schwergewichtigen, vom chinesischen Staat als „Verräter“ oder „Umstürzler“ angeklagten Aktivisten für Freiheit und Demokratie verteidigt: den Soziologen Wang Juntao, der 1989 die Studenten auf dem Tiananmenplatz beriet, Wei Jingsheng, der Ende der 1970er Jahre seine politische Forderungen mit Wandzeitungen verbreitete oder Bao Tong, den Sekretär des politisch liberalen Ex-Parteichefs Zhao Ziyang. Für keinen hat Zhang Gerechtigkeit erringen können. Alle wurden unschuldig verurteilt. Seine Plädoyers enthüllten die lücken- und fehlerhaften Anklageschriften des Staates. Rechtsanwalt Zhang führte im Gerichtssaal vor wie unrecht Pekings politische Urteile sind. Doch die Regierung hat ihn, den viele chinesische Juristen als das „Gewissen der Anwälte“ bezeichnen, nie für sein juristisches Wirken eingesperrt. Er hat keine Auszeichnung für seine Arbeit erhalten. Aber während der offiziellen Feier zu seinem 50. Dienstjubiläum 2006 würdigten ihn Vertreter der chinesischen Staatsanwaltschaft und des Volksgerichts als großen Anwalt. Sein Buch „Meine Plädoyers und meine Träume“ durfte in der Volksrepublik nur zensiert erscheinen. Zhang Sizhi steht für die tragische und oft widersprüchliche Entwicklung des chinesischen Rechtssystems. Er hat wie kein anderer den bis heute schwierigen Weg Chinas in Richtung Freiheit und Demokratie begleitet. Er hat ihn mit durchlitten. Denn er symbolisiert auch seinen eigenen Lebensweg.
Mit einem humanistischen Geist und Streben nach Freiheit ist Zhang aufgewachsen. Am 12. November 1927 in der zentralchinesischen Provinz Henan geboren, erlebte er die Wirren des Krieges gegen Japan. Sein Vater, ein engagierter Arzt, nährte sein Interesse für Politik. Die Gutherzigkeit der Mutter ist ihm bis heute ein Vorbild. Der Mut und der Gemeinschaftssinn seiner Mitschüler prägten ihn. Zhang war kein braver Musterstudent, er war neugierig auf das Leben. Er trieb Sport, ging ins Kino und zog umher. Als ein jüngerer Mitschüler in der Missionarsschule wegen unerlaubtem Studieren in der Nacht von der Schule verwiesen wird, regte sich Zhangs Gerechtigkeitssinn. Der damals 21-jährige organisierte einen kollektiven Unterrichtsstreik. Der Schüler durfte zurückkehren. Er sei wohl einfach etwas mutiger gewesen als die anderen, kommentiert Zhang seine Erinnerungen und lacht jungenhaft, fast verlegen. Mit einem Zitat des ebenfalls begnadeten Redners und amerikanischen Unabhängigkeitskämpfers, Patrick Henry, fasst er die Prägungen seiner Jugendzeit zusammen: „Gib mir die Freiheit oder gib mir den Tod!“
15 Jahre Zwangsarbeit
Kein Wunder, dass Zhang mit der kommunistischen Bewegung sympathisierte, die die Bevölkerung von Ausbeutung der Nationalisten, Großgrundbesitzer und Imperialisten gleichermaßen befreien wollte. Zhang liebäugelte mit einer Diplomatenkarriere. Aber Dienst an dem Regime der Nationalistischen Partei, der Guomingdan kam für ihn nicht in Frage. Also studierte er in den 1940er Jahren Jura in Peking, trat der kommunistischen Partei – damals noch im Untergrund - bei und erlebte die Gründung der Volksrepublik China. Er durfte jedoch nur ein Jahr als Rechtsanwalt für sie arbeiten. Dem wachsenden Dogmatismus der Führung wollte Zhang nicht folgen. 1957 wurde er zu 15 Jahren Zwangsarbeit in ein Lager aufs Land verschickt. „Zwei Dinge habe ich dort für mein Leben gelernt“, sagt Zhang, „meine Menschlichkeit zu prüfen und Bitterkeit zu ertragen.“ Diese beiden Lektionen haben ihn später immer wieder angetrieben. Nach der Entlassung aus dem Lager arbeitete Zhang als Lehrer. Er lehrte selbständiges Denken und gesundes Zweifeln. Die Schüler liebten ihn, und er glaubte eine neue Berufung gefunden zu haben.
Doch das nach dem Chaos der Kulturrevolution sich langsam wieder erholende Justizministerium brauchte Anwälte für den öffentlichen Prozess gegen die „Viererbande“ um Mao Zedongs Frau Jiang Qing. Die Justizbehörde der Partei erinnerte sich an Zhang und trug ihm die Leitung der Verteidigung für die „Viererbande“ auf. Zhang wollte nicht. Doch schließlich musste er sich – als rehabilitiertes Parteimitglied – der Gruppe fügen. Zhangs Berufsethos gewann die Oberhand. Er nahm die Aufgabe, den Mitgliedern der „Viererbande“ durch eine faire Verteidigung ein gerechtes Urteil zukommen zu lassen, sehr ernst.
Als „kleinen Schritt“ von einer rechtslosen Gesellschaft zu einer Rechtsgesellschaft bezeichnet er den Prozess rückblickend. Doch damals wie heute klagt Zhang die Partei für ihre politische Instrumentalisierung des Rechts an. Und auch mit sich selbst geht er hart ins Gericht, zu viele Fehler und Mängel will er bei seiner Arbeit entdeckt haben. Die Sätze „ich war nicht gut genug, ich habe nicht genug getan“, wiederholt Zhang immer wieder, nicht gebetsmühlenhaft, sondern ehrlich bewegt. Nach jedem Fall gehe er in Selbstrevision, erzählt der Rechtsanwalt. „Man darf die eigenen Schwächen nicht auf das politische System schieben“, sagt er. Gerade weil es in China schwierig ist als gewissenhafter Rechtsanwalt zu arbeiten, müsse man es tun. Zhang ist bescheiden. Er tue nur seine Pflicht, sagt er.
"Der Regierung fehlt der Mut für Reformen"
Seine Härte gegen sich selbst macht auch seine Kritik an der chinesischen Führung und dem politischen System so glaubwürdig. Er kritisiert scharf, aber analytisch und präzise. Er hasst die Führung in Peking nicht, im Gegenteil: er leidet mit an einer „Regierung, der der Mut für Reformen fehlt.“ Zhang liebt sein Land und wünscht sich so sehr eine bessere, sprich gerechtere Zukunft, vor allem für die Verfolgten und Schwachen in der Gesellschaft. Er will Chinas Führung nicht provozieren. Deshalb verzichtet er weitgehend auf bei der Regierung ungeliebte Interviews mit ausländischen Medien. Es geht ihm um seine Arbeit als Anwalt und den Aufbau eines funktionierenden, chinesischen Rechtssystems. Wie kann es sein, dass die Parteiinstitutionen Anwälten und Richtern Urteile vorschreiben, wie kann es sein, dass die Behörden Beweise fälschen, wie kann es sein, dass die Regierung den UN-Pakt über zivile und bürgerliche Rechte schon so lange verabschiedet, aber nicht ratifiziert hat, fragt Zhang immer wieder ruhig. Er ist um eine Antwort nicht verlegen. „Solange eine Partei alleine regiert, wird sie die Rechtsstaatlichkeit nicht vorantreiben“, sagt er, „die Unabhängigkeit der Justiz bleibt unmöglich, denn es geht nur um die Interessen der Herrschenden.“ Dass sei die Wurzel des Problems, nur wenn dies beseitigt würde, gebe es einen wirklichen Fortschritt in Richtung Freiheit und Demokratie, so Zhang.
Zhang wirkt wie ein Musterbeispiel an Selbstdisziplin. Aber er ist nicht abgebrüht, sondern lässt Gefühle zu und zeigt sie auch. Auf seinem Nachtisch liegt eine CD mit der „Mondscheinsonate“ von Beethoven. Er liebt Musik, sagt er, sie berührt ihn. Tränen treten ihm in die Augen, wenn er über die von Studenten initiierte Protestbewegung 1989 spricht. „Ich habe damals jeden Tag geweint, seitdem sich die Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens versammelt haben“, sagt Zhang, „und ich wäre bei ihnen gewesen, aber irgendetwas hat mich Ende Mai zu einer Konferenz nach Wuhan fahren lassen.“ Weil nach seinem Verlassen Flughafen und Bahnhöfe abgesperrt wurden, erlebte er das blutigen Ende der Protestbewegung am 4. Juni aus der Ferne. „Das hätte nicht passieren dürfen, nicht mit Panzern....“, murmelt Zhang leise. Doch dann fängt er sich wieder, „Das war ein schwerer historischer Fehler“, sagt er mit fester Stimme. Die Leidenschaft und die Forderungen der Studenten beurteilt er als grundsätzlich richtig. Doch auch die Gespaltenheit und die Radikalität einiger Protestführer verschweigt Zhang nicht.
Selten hat sich Zhang politisch brisante Fälle selbst ausgesucht. Aber wenn Klienten ihn um Verteidigung baten, hat er sie nie abgelehnt. So bat ihn 1991 der Sozialwissenschaftler Wang Juntao, der laut Zhang von der Partei als Vermittler in der Protestbewegung aufgerieben worden ist, um Verteidigung. Er war als Drahtzieher der Protestbewegung angeklagt. Die Behörden machten Zhang klar, dass es keinen Freispruch, nicht mal ein Plädoyer auf Freispruch geben dürfe. So entlarvte der Rechtsanwalt die Punkte in der Anklageschrift Schritt für Schritt in gründlicher und präziser Manier als haltlos. Aber er lavierte in seinem Plädoyer mit einigen Fehlern und einer Teilschuld seines Mandanten. Das wirft er sich bis heute vor. Als Wang zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weinte Zhang zu Hause. Er war erschüttert. Aber er findet die Kraft um weiter zumachen, um „den Schwachen eine Stimme zu schenken.“ Doch er schwebte langsam selbst in Gefahr.
Ein Einzelkämpfer, der sich selbst am meisten vertraut
Der Fall von Bao Tong, Privatsekretär des nach dem Tiananmen-Massaker abgestraften Parteisekretärs Zhao Ziyang, hätte Zhangs Karriere als Anwalt beinahe beendet. Denn für Bao plädierte er auf Freispruch, überzeugend wie ihm einige später signalisierten. Er war ausnahmsweise relativ zufrieden mit seinem Plädoyer. Doch dann bekam Bao sieben Jahren Gefängnis. Die chinesische Partei wollte nichts wissen von Recht und Gerechtigkeit. Und sie wollte Zhang nun seine Anwaltslizenz entziehen. Durch geschicktes Stillhalten und Rabatzmachen im rechten Augenblick bekam er sie zurück. „Letztlich habe ich durch den Fall Bao sehr viel Selbstbewusstsein gewonnen“, sagt Zhang, „denn ich habe gemerkt, ich kann solche Fälle souverän handhaben.“ Er ist nicht verbittert, sondern sieht es als Aufgabe seines Berufsstandes an, den chinesischen Rechtsstaat mit kleinen Schritten zu erstreiten. Auch nach 2000 hat er eine Reihe von politisch sensiblen Fällen übernommen, unter anderem die Verteidigung seines Kollegen Zheng Enchong, der sich für Betroffene von Zwangsumsiedlungen in Shanghai eingesetzt hatte.
Zhang umgibt eine Aura des Einzelkämpfers. Er vertraut am meisten sich selbst. Dennoch sorgt er sich wie ein Vater um die junge Generation von Rechtsanwälten. Dass er seinen eigenen Kindern, einem Sohn und einer Tochter nun Mitte 50, den Anwaltsberuf ausgeredet hat, bereut er. Gerade die Tochter, die nun als Lehrerin arbeitet, hätte soviel mehr Potential als er selbst gehabt, meint Zhang. „Ich hätte sie nicht wegen meiner Sorgen in ihrer Berufswahl einschränken dürften“, sagt er.
In den letzten zwei Jahren hat er durch das Engagement der jungen Rechtsanwälte wieder neue Hoffnung für die Zukunft Chinas geschöpft. „Sie müssen nur die richtige Balance zwischen Selbstschutz und kämpferischem Engagement finden“, sagt Zhang. Um einige macht er sich Sorgen, denn sie riskieren zu schnell die eigene Karriere und Freiheit. Mit einer radikalen Konfrontationsstrategie schaden manche auch ihren Mandaten. Zhang will ihnen die richtige Strategie im Kampf für Recht vermitteln.
"Viel zu tun - für die Freiheit, für die Gerechtigkeit und für China"
Auch das Ausland kann bei der Entwicklung des chinesischen Rechtssystems helfen, so Zhang. Der Rechtsstaatsdialog zwischen der deutschen und der chinesischen Regierung öffnet vielen Kadern die Augen für den dominierenden Trend in puncto Recht auf der Welt, formuliert Zhang höflich. Auch wenn ihm Peking noch nicht unbedingt folgen mag, schließt er an. „Jedoch sollten ausländische Organisationen stärker mit Partnern vor Ort, mit Universitäten und mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten“, wünscht sich Zhang von der internationalen Unterstützung.
Auch er selbst engagiert sich weiter für Chinas Rechtsstaatlichkeit. Der agile 80-jährige steckt voller Energie. Noch immer ist er als Anwalt aktiv und reist dafür durchs ganze Land. Familie und Freunde haben ihn wiederholt gebeten, etwas kürzer zu treten. „Aber ich fühle mich auf dem Stuhl bei Gericht am lebendigsten und wohlsten“, lacht Zhang. Es sei noch so viel zu tun, für die Freiheit, für die Gerechtigkeit und für China.
Kristin Kupfer ist freie Journalistin, Politikwissenschaftlerin und Sinologin. Sie lebt in Peking.
Der Beitrag ist am 02.12.2008 in gekürzter Fassung in der taz erschienen.